[197] Ein Anhänger:
848
Wie muß man schauen, taugen wie,
Auf daß man heiße »stillgemut«:
O gib es an mir, Gotamo,
Befragt um höchstes Menschentum.
Der Herr:
849
Kein Dürsten nach dem Späterhin,
Dem Früherher nicht zugeneigt,
Inmitten unersinnbar sein:
So hat man vor sich kein Gesicht.
850
Der Zürnen nicht, nicht Fürchten kennt,
Kein Prahlen, keinen Groll begreift,
Bedachtes ausspricht, ungespreizt:
Er schränkt als Denker ein das Wort.
Er hofft nicht auf die Zukunft hin,
Vergangnem seufzt er nicht mehr nach;
Er weicht vor jedem Eindruck aus,
Da lockt ihn keine Ansicht an.
Bei sich geborgen, ohne Trug,
Erspäht er und erwartet nichts,
Er drängt nicht vor sich, niemals dreist,
Verschollen wo man andre schilt.
[198] 853
An holden Dingen hangt er nicht,
Und keinem Hochmut ahmt er nach;
Und wann er redet spricht er sanft,
Nicht gläubig, immer angeregt.
854
Um kein Erlangen müht er sich,
Erlangt er nichts, es gilt ihm gleich;
Kein Durst mehr kann ihn stacheln auf,
Noch schmachten lassen nach Geschmack.
855
Wohl ausgeglichen bleibt er klar,
Vergleicht nicht wieder sich der Welt,
Ob er da besser, schlechter sei,
Wird also nimmer sein empört.
Wer nicht mehr ein sich pflanzen mag,
Die Satzung merkt, uneingepflanzt,
Nach Sein und Nichtsein, wie es sei,
Ein Dürsten wer da nimmer kennt:
Ihn kann ich heißen »stillgemut«;
Bekümmert um kein Wunschgebiet,
Gebunden an kein Fesselband,
Entglitten ist er aus dem Garn.
Kein Sohn ist, keine Herde sein,
Nicht Feld und Wiese, Haus und Hof;
Nicht Eigen, auch Uneigen nicht
Ist aufzufinden je bei ihm.
Was immer da die Menge spricht,
Und Priester- und Asketenschar,
Es kommt ihm nicht mehr vor den Sinn,
Und kein Gerede regt ihn auf.
[199] 860
Der Gier entgangen, ohne Sucht,
Mit Höhern spricht der Denker nicht,
Mit Gleichen nicht, Geringern nicht,
Weiß Zweck nicht, ohne Zweck er selbst.
861
Wer in der Welt nichts eigen nennt,
Sich über Arges nicht mehr kränkt,
Den Dingen nicht mehr nahe geht:
Ihn darf man heißen »stillgemut«.
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